In diesem Projekt wurden achtzehn Wandbilder im Innenhof der Medizinischen Fakultät des Klosters Labrang am nord-östlichen Rand des tibetischen Plateaus (heutige in der chinesischen Provinz Gansu) dokumentiert und ihr Stellenwert innerhalb der Tibetischen Medizin analysiert. Die Wandbilder illustrieren Inhalte der ersten zwei Teile der „Vier Tantras“, dem bedeutendsten Lehrtext der Tibetischen Medizin in Form von „sich ausbreitenden Bäumen“ (Das Wort Tantra bedeutet in diesem Zusammenhang Lehrtext). Diese kunstvoll gefertigten Baummetaphern werden zum Unterricht, Studium und zur Prüfung medizinischer Inhalte verwendet. Nicht alle Wandbilder spiegeln den Inhalt des klassischen Lehrtextes komplett wieder: Manche der Bäume illustrieren dessen Inhalt nur kursorisch, andere gehen weit über die Vorlage hinaus. Dies trifft insbesondere auf die Kapitel der Anatomie, Krankheitslehre, bestimmte Aspekte der Arzneimittelkunde, therapeutische Fertigkeiten und die Arztpersönlichkeit zu.
Die Wandbilder wurden mit einem anderen didaktischen Medium der Tibetischen Medizin verglichen: Eine im siebzehnten Jahrhundert entstandene und in Fachkreisen berühmte Zusammenstellung von über siebzig Thangkas bzw. Rollbilder, die an die Wand gehängt werden können, illustrieren ebenfalls Inhalte der „Vier Tantras“. Auch hier entsprechen die dargestellten Inhalte nicht der Textvorlage. In diesem Projekt wurden die Inhalte beider Medien miteinander genau verglichen; und es hat sich herausgestellt, dass viele Aspekte, die in den Thangkas nicht zur Anschauung gelangen, durch die Wandbilder versinnbildlicht werden und umgekehrt. Nimmt man beide didaktische Medien gemeinsam, werden die Inhalte der ersten beiden Teile der „Vier Tantras“ nahezu komplett abgedeckt.
Zu Beginn der Forschung stellte sich die Frage, ob die Wandbilder im Kloster Labrang als eine regionale Besonderheit der Tibetischen Medizin zu verstehen sind, oder ob sie einer anderen bislang unbekannten Texttradition folgen würden. Nach eingehender Recherche konnte ein Text über „sich ausbreitende Bäume“ als die Textvorlage für die Wandbilder identifiziert werden: Dessen Autor ist Blo bzang Chos grags,ein Leibarzt des im siebzehnten Jahrhundert lebenden Fünften Dalai Lama. Im fortgeschrittenen Alter wurde er auch medizinischer Leiter der in dieser Zeit gegründeten Medizinhochschule am „Eisenhügel“ (Chakpori) direkt gegenüber dem Winterpalast in Lhasa.
Neben der inhaltlichen Analyse der Wandbilder hat sich das Projekt zum Ziel gesetzt, auch die historischen Rahmenbedingungen zu schildern. Dabei wurde nicht nur die Zeit um die Entstehung der Abhandlung über „sich ausbreitende Bäume“ untersucht, sondern auch die Entwicklung der Medizinischen Fakultät des Klosters Labrang berücksichtigt. Nach einem Forschungs-Aufenthalt in Labrang hat sich herausgestellt, dass vorherige Wandbilder in der Kulturrevolution (1966-1976) zerstört wurden. Im Zuge der Revitalisierung in den 1980-er Jahren wurden sie unter Anleitung erfahrender Ärzte wieder hergestellt. Während einer größeren Sanierung des Innenhofs der Medizinischen Fakultät wurden die Wandbilder ein weiteres Mal neu gefertigt, leider nicht so kunstvoll, doch nach wie vor der Text-Tradition folgend. Ein Portrait der wichtigsten Akteure für die Aufrechterhaltung dieser einzigartigen medizinischen Lehrtradition rundet den historischen Teil ab.